Sich etwas für das neue Jahr vorzunehmen, gehört wohl zum Silvester-Einmaleins wie Raclette und Wachsgießen. Manche wollen mit sehr ambitionierten Zielen starten, andere gehen es mit den Neujahrsvorsätzen lieber gemächlich an. Etwas für die Gesundheit zu tun, sich im Job zu verändern, mehr Zeit für den Freundeskreis einzuplanen oder alte Gewohnheiten wie Rauchen abzulegen, hat sich vermutlich der Großteil schon mindestens einmal vorgenommen.
Aber gibt es auch spezielle Themen, denen sich Gays widmen? 🧐
Was sind typische schwule Neujahrsvorsätze?
Herzlich willkommen im Klischeeland! Again. Zuerst einmal ist es natürlich total unsinnig, ernsthaft über diese Frage nachzudenken. Oder? Schwule Männer haben vermutlich ähnliche Ziele wie ihre heterosexuellen Pendants. Es gibt aber durchaus Phänomene, die ich unter Gays speziell beobachte. Auf diese gehe ich nun weiter ein und habe mir auch aus psychologischer Forschungssicht dazu ein paar Befunde angeschaut.
Folgende Themen werden euch dabei begegnen:
- Body Goals und Körperkult
- Partnersuche
- Aktivismus und Verbundenheit
- Inklusion und Toleranz
- Drogen und Abstinenz
Gehen wir doch direkt mal rein…
“Ich möchte abnehmen, zunehmen, Muskeln, hot sein!”
Auch wenn sich in den letzten Jahren endlich etwas tut, was schwulen Körperkult und Body Goals generell angeht, ist der Druck und Wunsch nach einem durchtrainierten Körper nach wie vor bei den meisten Männern unverhältnismäßig hoch. Muskeln wie Chris Evans oder Henry Cavill? Für viele die scheinbare Eintrittskarte in eine perfekte Welt. Ich bin gespannt, mit welchem männlichen Schönheitsideal uns Heidi Klum in der 19. Ausgabe von GNTM konfrontieren wird – zum ersten Mal können sich in der Modelshow nun auch Männer bewerben.
Nicht verwunderlich also, dass Fitnessstudios in den ersten Monaten des Jahres den größten Zulauf haben. Der Summerbody muss her! Und diese Erwartungshaltung ist bei vielen schwulen Männern so stark, dass sie mitunter sogar zu einem gestörten Körperbild oder Essstörungen führen kann. Mitchell J. Wood sieht die Ursachen dafür in den geschlechtsspezifischen Machtverhältnissen, die durch Männer initiiert und aufrechterhalten werden.
Was wäre also der gesunde Weg, mit dem eigenen Körperbild umzugehen?
Am Anfang steht immer die Frage, warum man sich ein bestimmtes Ziel überhaupt setzt. Tust du es für dich oder für andere? 👆
Dann geht es ins Detail: Ist wirklich alles am eigenen Körper nicht ok – oder gibt es Teile, die voll in Ordnung sind? Vielleicht ist gerade kein Sixpack sichtbar, aber der Arsch macht schon ordentlich was her. Vielleicht sind die Oberarme nicht super muskulös, aber die Nase sitzt am richtigen Fleck.
Body Positivity muss ehrlich und authentisch gelebt werden, damit man sich selbst auch glaubt. Findet zuerst die Eigenschaften eures Körpers, die euch wirklich gut gefallen, bevor ihr daran denkt, was alles verändert werden muss. Ein Update des Vorsatzes “Ich muss muskulös werden!” könnte also sein: “Ich werde dieses Jahr mehr Stellen an mir finden, die ich mag!”
Wenn ein Partner das Loch füllen soll
Ein weiterer typischer Vorsatz lautet: “Dieses Jahr möchte ich mich verlieben und einen Partner finden.” So oder so ähnlich wird der Wunsch nach Liebe, Zuneigung und auch Sex ausgesprochen.
Hier führt die Frage nach dem Warum oft zu “Ich möchte nicht mehr einsam sein.”
Tatsächlich ist Einsamkeit unter LGBTQ+ Menschen ein häufig vorkommendes Problem. Aber vor allem die Partnersuche machen sich Gays oftmals selbst besonders schwer. Weil sie Grindr benutzen.
Ich will nicht per se alle Dating-Apps verteufeln. Ich habe immerhin selbst die Liebe meines Lebens auf Romeo gefunden. Viele benutzen in meinen Augen Apps allerdings nicht besonders effektiv. Damit meine ich, dass ihnen nicht klar ist, wie andere auf den Plattformen unterwegs sind, welche Mechanismen wie genau funktionieren und wie die eigenen Stimmungen, Bedürfnisse, Werte und Persönlichkeitsmerkmale das Dating darüber beeinflussen.
77 % der Grindr-User fühlen sich schlecht nach der App-Benutzung
Grindr sorgt dafür, dass wir am liebsten das Handy gegen die Wand klatschen wollen. Eine Stunde gechattet und getappst und doch wieder nichts bei rumgekommen. Bei Tinder passiert oft genau das gleiche Phänomen: swipen und matchen ohne Ende, aber niemand schreibt. Das sorgt natürlich für Frust und Enttäuschung. 🤬
Besser daten geht so:
- Setze dir feste Zeitfenster, in denen du den Kopf frei und wirklich Lust auf Chats und Partnersuche hast.
- Überlege dir, welche App du für welches Bedürfnis wirklich verwenden willst (bei Grindr oder Chill bspw. geht es vordergründig um schnellen Sex, bei Hinge und Bumble steht m. E. eher das Kennenlernen im Vordergrund).
- Gestalte dein Profil so, dass es eine gute Aussagekraft hat und zwar zu dir, deiner Person und wonach du suchst – aka erwecke keine falschen Hoffnungen. Don’t be a faker, dear!
- Starte mit einer wohlwollenden Haltung im Sinne von “Wem kann ich heute den Tag durch meine Aufmerksamkeit versüßen?” anstelle von “Welcher Vollhonk wird mich hier heute wieder nerven und ghosten?!” ins Getümmel.
- Bleibe neugierig und frag interessiert nach, anstatt genervt auf die anderen Personen zu reagieren. Trau dich, den ersten Schritt zu machen und beginne Gespräche mit einer einladenden Frage.
- Sei dir über deine Grenzen klar und trete dafür ein. Wer dich permanent verärgert, wird blockiert. Lass dich nicht auf Diskussionen oder Manipulationen ein. Dränge dich ebenso anderen auch nicht auf und respektiere deren Grenzen.
- Schau dir Profile langsamer an, fokussiere dich auf Einzelpersonen. Stichwort “Slow Dating”. Mag ungewohnt sein, aber wirklich in Ruhe auch mal Profiltexte zu lesen und ALLE Bilder bewusst wahrzunehmen, kann einen großen Unterschied machen.
- Habe immer eine Alternative parat. Das kann Ablenkung durch Freund*innen, backen, spazieren, masturbieren, zocken sein – oder auch Coaching, Beratung und Therapie.
Prinzipiell vertrete ich die Auffassung, dass Menschen, die sich selbst und ihre Bedürfnisse und Außenwirkung gut kennen, auch erfolgreicher im Dating sind. Beim Dating lernt man sich auch sehr gut selbst kennen und generell gilt: erzwingen geht sowieso nicht.
Von CSD zu CSD
Neujahrsvorsatz Nummer 3 bei den Gays lautet: Pride!
Einerseits kann es den Selbstwert steigern, sich für eine gute Sache zu engagieren. Andererseits sorgt die Teilnahme an den vielfältigen CSDs in Deutschland für ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Alle Termine für 2024 findet ihr unten in den Links.
Was daran ein besonderer Vorsatz sein soll? Manche Gays tingeln durchs ganze Land (und darüber hinaus), nehmen von Jahr zu Jahr mehr Städte mit und verbinden die Reisen mit dem Besuch von Menschen, die sie über X und Bluesky kennengelernt haben.
Doch Vorsicht: das Gefühl nach der Pride Saison kann einen wieder mächtig auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Stellt sicher, dass ihr auch darüber hinaus mit eurer Community vernetzt bleibt.
Selbstreflexion schadet nie
Sich gegen Diskriminierung und für mehr Toleranz einzusetzen, ist etwas, das wir nicht nur von der Gesamtgesellschaft, sondern auch uns selbst fordern müssen.
Viel zu oft ist auf Gay Dating-Plattformen und Social Media noch von Vorurteilen und Ausgrenzung innerhalb der eigenen Reihen zu lesen. Auf Partys wird über andere Jungs getuschelt. Zu schwul, zu feminin, zu queer, zu behaart, zu klein. Nicht weiß genug, nicht muskulös genug, nicht maskulin genug. Internalisierte Homonegativität und Rassismus sind leider an der Tagesordnung.
Sogar die Abgrenzung von trans und non-binären Menschen fordern einige Trollaccounts lautstark mit dem Hashtag #LGBwithouttheT. 🤢 Das muss aufhören!
Vorsätze zu diesem Thema könnten lauten: “Ich möchte inklusiver sein und befasse mich dieses Jahr mehr mit mir und meinen toxischen Überzeugungen. Auch ein Nachhilfekurs in queerer Geschichte könnte mir helfen.”
Sex, drugs and mentally k.o.
Politischer Druck, gesellschaftlicher Druck, Diskriminierung innerhalb der eigenen Bubble, Corona-Nachwehen und jetzt auch noch große Ziele fürs neue Jahr? Da kann man schon verstehen, dass Menschen auch mal abschalten und sich rausziehen wollen – und am Ende an psychischen Störungen erkranken.
Schwule und bisexuelle Männer, vor allem in Großstädten, greifen häufig zu Drogen und praktizieren Chemsex. Dabei muss dieses Verhalten nicht per se als problematisch verurteilt werden, führt in der Regel aber zu ungesunden Konsequenzen – oder ist durch diese bedingt (also keine eindeutige Kausalität).
Übermäßiger Drogenkonsum verschlechtert die physische und psychische Gesundheit, mündet in Abhängigkeit und persönlichen wie sozialen Schäden. Die Verbindung von Sex und Drogen kann außerdem bewirken, dass das sexuelle Erleben verändert wird und man letztendlich in einem Teufelskreis landet. Nüchtern eine Runde Fun? Geht einfach nicht mehr.
Selbst den Check machen
Ihr könnt euch selbst testen: Gehen zwei oder drei Wochen ohne Alkohol und andere Drogen problemlos klar? Geht Sex auch ganz ohne Substanzen und ihr empfindet Lust und Freude dabei? Schlaft ihr genug? Habt ihr neben all der Zielsetzung auch noch den Kopf hin und wieder frei für Erholung? 🚵🌳
Falls nicht, sucht euch Hilfe. Für den Vorsatz “Ich werde dieses Jahr eine Psychotherapie beginnen.” muss sich niemand schämen. Einen Termin fürs Erstgespräch vermittelt euch die 116117. Wenn ihr konkrete Beratungsstellen für Gays sucht, schaut in meine Liste.
Gute Vorsätze sind konkret geplant, auf ein Ziel ausgerichtet, abgesichert falls etwas dazwischen kommt, stimmen mit euren Fähigkeiten und dem Vertrauen auf diese überein und setzen euch nicht unnötig unter Druck.
— saiboTeur 🖼️ (@saiboTeur) December 31, 2020
Alles andere könnt ihr gleich lassen. Is ja so.
Übrigens geistert seit Jahren folgende Info durch die Medien:
92 % der Menschen scheitern an ihren Vorsätzen.
(nicht-repräsentative Umfrage von 2005)
Lasst euch davon nicht entmutigen, sondern eher bestärken, dass ihr zu den wenigen gehören könnt, die es schaffen. Der Trick ist es, die Ziele nicht unrealistisch hoch zu stecken und vor allem am Ball zu bleiben. Wirkliche Gewohnheitsveränderungen benötigen mindestens drei Wochen Disziplin und Durchhaltevermögen.
Guten Rutsch!
Quellen und Literatur:
- CSD Termine
- The Gay Male Gaze
- Körperbildverzerrungen und Essstörungen bei schwulen Männern
- Warum leiden LGBTIQ* besonders unter Einsamkeit
- Grindr auf Platz 1 der “Unhappiest Apps” (2018)
- Umfrageergebnis zu scheiternden Neujahrsvorsätzen (2005)
- Funktionen freiwilligen Engagements nach Clary et al. (1998)
- Vorurteile gegenüber Bottoms (2017)
- Rolle von Maskulinität unter Männern (2016)
- Artikel “White Gay Men Are Hindering Our Progress as a Queer Community”
- Artikel “Marginalization Among the Marginalized”
- Drug use among gay & bisexual men (2016)
- The Future of Drugs (2016)
- Beratungs- und Hilfeangebote in Berlin